Hier können Sie die Laienpredigt vom Gemeindesonntag am 2. September 2012 nachlesen, welche von Christine Werner verfasst wurde.

Laienpredigt September 2012

Hier können Sie die Laienpredigt vom Gemeindesonntag am 2. September 2012 nachlesen, welche von Christine Werner verfasst wurde.

Predigt am Gemeindesonntag, 2. September 2012

Christine Werner

Kürzlich war ich mit meinem Mann an der Holländischen Küste in den Ferien, dort, wo sich fast 180° Himmel über das flache Land wölben, wo der stete Wind die Haare zerzaust und endlose Kornfelder zum wogen bringt. Weiss-wollige Schafe sind auf Deichen und Weiden am grasen, so dass es aussieht, als wären Millionen von bauschigen Schönwetterwölkchen direkt aus dem Blau des Himmels auf die saftig-grünen Wiesen umgezogen. In Holland soll es übrigens mehr Schafe als Einwohner geben, habe ich gehört. In den Dörfern hinter den Deichen scharen sich die Häuser um die Kirchen, deren spitze Türme sozusagen wie Leuchttürme für die Menschen gen Himmel zeigen.

Eine dieser Kirchen wollten wir besuchen. Doch als wir vor der Türe standen, merkten wir, dass das gar keine Kirche (mehr) war, sondern sowas wie ein Mehrzweck-Lokal. Am Wochenende sollte – so stand auf dem Anschlag – ein grosser Bücherverkauf stattfinden. Bei einer anderen Kirche war der ganze Wochenmarkt vom Vorplatz in die „Kirche“ gezügelt worden wegen des Regens. Wir waren sprachlos und auch etwas alarmiert. In den nächsten Tagen fanden wir in weiteren Dörfern und Städtchen Kirchen, welche zu Markthallen, Galerien, Beizen, Lagerräumen und sogar Wohnhäusern „umfunktioniert“ worden waren.

Offenbar gibt es in Holland zu viele Kirchen und zu wenig Menschen, die sich einer Kirche zugehörig fühlen, so dass sie bereit sind, dafür Verantwortung zu übernehmen. Und so wurde es zu teuer, all die leer stehenden Gotteshäuser weiter zu pflegen und zu erhalten. Man hat Gemeinden zusammen gelegt und die überzähligen Kirchen kurzerhand verkauft, vermietet oder anderweitig genutzt. Und dieser Trend scheint international zu sein. Meine Schwester war zum Beispiel gerade eben in Schottland in den Ferien und hat dort in einer nicht mehr gebrauchten Kirche gewohnt, in die man mehrere Ferienwohnungen eingebaut hat, die man an Gäste vermietet. In London führt der Schweizer Spitzenkoch Anton Mosimann gar ein Edel-Restaurant in einer nicht mehr benötigten Kirche, und aus Italien und Sizilien hat Martin Knitsch Bilder mitgebracht von Kirchen, aus denen Bars, Galerien und Modeläden geworden sind – und das in einem Land, in dem Religion doch eigentlich noch einen eher hohen Stellenwert hat!

Zum Glück ist das bei uns nicht so. Das war mein erster Gedanke. Doch die Sache hatte sich in meinem Hirn festgekrallt und mich nicht mehr los gelassen. Gibt es das bei uns wirklich nicht, oder macht sich dieser Trend möglicherweise auch hierzulande immer mehr bemerkbar? Die Entwicklung in unserer Bonstetter Kirchgemeinde in den letzten Jahrzehnten zeigt jedenfalls genau in diese Richtung. Aus heutiger Perspektive glaubt man nämlich kaum noch, was in den Kirchenprotokollen von 1965 nachgelesen werden kann: Man rechnete vor weniger als 50 Jahren bei uns noch mit einem so grossen Gemeindewachstum, dass man glaubte, „dereinst 5 – 7 Pfarrer und möglicherweise eine zweite reformierte Kirche“ zu benötigen. Von solchen Ideen sind wir heute meilenweit entfernt.

Ich erinnere mich auch an einen Artikel zu diesem Thema, der letzten Oktober im TAGI erschienen ist: Fast überall in der Schweiz gehen die Mitgliederzahlen in den Kirchgemeinden zurück, stand darin. In den letzten 50 Jahren hat allein die Stadt Zürich über 60 % ihrer Mitglieder verloren! Viele Kirchen werden damit auch bei uns überflüssig und man fängt an sich zu überlegen, was mit ihnen geschehen soll. Ein Teil der Predigerkirche wird ja schon heute von der Zentralbibliothek genutzt, in der Kapelle des ehemaligen Inselhofspitals, der früher im Seefeld stand, befindet sich heute das von blinden Menschen geführte Restaurant „Blindekuh“ und in Wollishofen sucht man mit einem Ideen-Wettbewerb gerade aktiv nach einer anderen Nutzungsmöglichkeit für die grosse Kirche auf der Egg, die „fast alles werden darf – nur kein Sexshop“. Da stellt sich wirklich die Frage, ob es denn Kirchen überhaupt braucht, und wenn ja, für wen und wozu? Ist ein Dorf ein richtiges Dorf auch ohne Kirche?

Und: Wozu soll eine Kirche eigentlich gut sein?
Um diesen Gedanken weiter zu verfolgen, muss ich etwas ausholen:
Wenn ich mich als Kind verbotenerweise an der Zuckerbüchse vergriffen und mich jemand dabei erwischt hatte, dann wurde ich mit erhobenem Zeigefinger ausgeschimpft: „Das hat der liebe Gott aber gesehen! Der ist überall und sieht alles!“ Auch in der Sonntagschule lernten wir, dass der liebe Gott überall sei, dass man sich von ihm aber kein „Bildnis“ machen dürfe. Trotzdem stellte ich mir vor, wie er etwa durch einen Stall schreitet und da und dort eine Kuh tätschelt, wie er gleichzeitig in der Schreinerei auf einem Haufen Hobelspäne oder einer Bretterbeige sitzt und den Handwerkern zuschaut, in einer Backstube den Finger in eine Teigschüssel steckt um zu probieren. Auf dem Pausenplatz spaziert er zwischen den Kindern herum, streicht dem einen oder andern unbemerkt über den Kopf, begleitet den Milchmann oder den Briefträger auf ihren Touren, guckt dem Bankangestellten über die Schulter – alles im selben Augenblick….! Es kamen mir immer mehr Situationen in den Sinn und auf einmal vervielfältigte sich der liebe Gott auf eine metaphysische Weise, die mich in völlige Verwirrung stürzte.

Am Sonntag in der Kirche war er auch da, manchmal jedenfalls. Aber manchmal war es auch, als ob er nicht zu Hause wäre, nicht in seinem Haus, in der Kirche, im Gotteshaus, im Haus des lieben Gottes. Wohnte er da? Und wo schlief er dann? Schlief er überhaupt? Vielleicht stand oben im Turm ein Bett für ihn. Und was war dann mit der anderen Kirche? Bei uns im Dorf gab es neben der riesengrossen reformierten auch noch eine ebensogrosse katholische Kirche.

Solche Gedanken beschäftigten mich als Kind intensiv. Dann wurde ich älter, vielleicht siebzehn oder achtzehn, ich lächelte über meine kindlichen Gedankensprünge und fand sie ziemlich einfältig und naiv. Den lieben Gott – hatte ich herausgefunden – den gab es nämlich gar nicht! Es war die Zeit des Vietnamkrieges mit seinen fürchterlichen Auswirkungen, und ich war überzeugt, dass Gott, so es ihn denn gegeben hätte, so etwas Grässliches niemals zugelassen hätte. Dass es trotzdem passierte – und wie wir wissen, ja immer und immer wieder passiert – war mir Beweis genug für Gottes Nicht-Existenz.

Wieder etwas später lebte ich längere Zeit im Ausland, hatte am Anfang Schwierigkeiten mit der fremden Sprache und fühlte mich einsam und allein. Beim Durchstreifen der unbekannten Stadt trat ich eines Tages unvermittelt in eine offene katholische Kirche ein. Leise knackend fiel die Tür hinter mir ins Schloss, der Lärm des rauschenden Verkehrs blieb zurück, wohltuendes Halbdunkel und Stille umfingen mich. Erst mussten sich meine Augen an‘s Dämmerlicht gewöhnen, dann wanderten sie durch das stille Kirchenschiff, über die farbigen Fenster und den schlanken Streben entlang empor bis zu den hohen gotischen Spitzbögen und dem Eckstein im Gewölbe. Vor einem der Seitenaltäre flackerten Lichter, eine junge Frau half ihrem kleinen Jungen flüsternd, eine neue Kerze anzuzünden. Weit vorne knieten verstreut einige Menschen reglos in den Bänken, jemand ging eiligen Schrittes über den Mosaikboden, sorgsam bemüht, keinen unnötigen Lärm zu verursachen. Dann ging die Türe erneut, ein Geschäftsmann in Anzug, weissem Hemd und Krawatte kam leise herein, stellte eine edle Ledermatte neben sich und kniete sich für zwei-drei Minuten in eine Bank, dann verschwand er ebenso leise, wie er gekommen war, wieder hinaus ins pulsierende Leben. Ich setzte mich, schloss für einen Moment die Augen und nahm den Anflug von Weihrauch war, der wohl noch von der Frühmesse her in der Luft schwebte. Und plötzlich packte mich eine überwältigende Ergriffenheit. Gab es Gott vielleicht doch und war er gerade jetzt da? Oder waren es die betenden Menschen, die seine Gegenwart so deutlich spürbar machten?

Wenn ich an dieses Erlebnis zurück denke, dann weiss ich plötzlich, wozu es Kirchen braucht, oder Synagogen, Moscheen, Tempel… – nicht etwa, weil Gott nur an solchen Orten zu Hause wäre, nicht etwa, weil er Kirchen nötig hätte. Gott gab es schon, als noch kein Mensch auch nur im Traum daran dachte, eine Kirche zu bauen, und es wird ihn noch geben, wenn es längst keine Kirchen mehr gibt. Aber solange es Menschen gibt, werden Menschen auf der Suche nach dem Göttlichen sein und sie werden sakrale Orte brauchen – für sich! Dies veranschaulicht eine kleine Geschichte aus der jüdischen Tradition:
Die Schüler von Rabbi Kuk, einem jüdischen Gelehrten, hatten beobachtet, dass sich ihr Meister zum Beten immer in die Wüste zurück zog. Darum wollten sie von ihm wissen: „Du hast uns doch gelehrt, dass Gott überall ist und dass er überall der Gleiche ist. Warum also gehst du zum Beten in die Wüste? Das könntest du doch auch hier tun.“ „Es stimmt,“ antwortete Rabbi Kuk, „Gott ist überall und er ist überall der Gleiche. Ich aber, ich bin nicht überall der Gleiche und darum gehe ich in die Wüste, wenn ich mich dem Ewigen nähern will.“

Hierzulande ist es mit dem Gang in die Wüste etwas schwierig. Aber wir haben Kirchen. Und vielleicht sind Kirchen doch ganz besondere Orte, die unter einem geheimnisvoll besonderen Schutz stehen. Wenn man Bilder aus Kriegsgebieten sieht, fällt nämlich auf, dass manchmal nach einem Bombenhagel ausgerechnet die Kirche allein halbwegs unbeschadet stehen geblieben ist. Andererseits weiss man aber auch, dass zerstörte Kirchen oft unter enormen Opfern und mit riesigem Einsatz geduldig wieder aufgebaut werden, wie das z.B. mit der berühmten Frauenkirche in Dresden geschehen ist. Warum das alles, wenn es für die Menschen nicht so wichtig wäre?

Kirchen braucht es für uns Menschen zum gemeinsamen Feiern, aber auch als Rückzugsort aus dem Trubel des Alltags, wo wir auch einmal allein oder allein mit Gott sein können – als Ort der Stille – um zur Ruhe zu kommen – um zu beten – um zu weinen – um zu danken – und um einfach da und ganz bei sich zu sein.

Von solchen Gedanken wurden Architekten auf der ganzen Welt seit je her zu den unterschiedlichsten, wunderbaren, riesigen oder auch kleinen, einfachen und schlichten, immer aber zu ganz besonderen Bauten inspiriert, ob sie nun Kirchen, Synagogen, Moscheen, Tempel oder wie auch immer heissen, ist ganz egal. Es sind wertvolle Zeugen der jeweiligen Kultur, Kultstätten, wo man allein sein kann oder zum feiern zusammen kommt und wo man vielleicht manchmal Gottes Gegenwart spüren kann. Darum sollen Kirchen eben auch nicht sechs Tage verschlossen bleiben und nur für den Sonntagsgottesdienst geöffnet werden, sondern alle Tage offen sein wie das seit einigen Jahren hier bei uns üblich ist. Man soll sie aber nicht nur schützen und bewahren, sondern vor allem das damit tun, wofür sie im eigentlichen Sinne gedacht sind, nämlich sie brauchen, sie benützen und mit Leben füllen.

Das wünsche ich uns und unserer lieben kleinen Kirche von ganzem Herzen, damit sie auch langfristig Kirche bleiben und nicht Markthalle oder Bar oder Eventlokal etc. werden muss.

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